Der Apfelbaum by Berkel Christian

Der Apfelbaum by Berkel Christian

Autor:Berkel, Christian [Berkel, Christian]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Biografischer Roman
Herausgeber: Ullstein
veröffentlicht: 2018-10-12T00:00:00+00:00


23

Oloron stand auf dem Bahnhofsschild bei Gurs. In abblätternden Lettern. Der von den Pyrenäen herabfallende Wind schlug einem die Kälte ins Gesicht.

Den ersten Wagen hörten sie nicht. Langsam rollte er bis zur Mitte des Lagers. Die schwarz uniformierten Beamten der Police nationale stiegen schweigend aus. Kurz darauf rollte der zweite Wagen heran. Insgesamt waren es vier. Madame Frévet trat mit einer Trillerpfeife an das Ende des mittleren Barackengangs. Auf ihr Signal traten alle internierten Jüdinnen aus ihren Baracken. Wer nicht Jude war, wurde aufgefordert, in seine Baracke zurückzukehren. Manche brachen in Tränen aus, andere schritten mit stoischer Miene zu den Lastwagen. Die Schwarzen halfen ihnen, wie bei ihrer Ankunft, auf die offene Ladefläche. Sala kam von der Latrine zurück. Schnell versteckte sie sich hinter einer Baracke. Unter dem hereinbrechenden Regen rollte der Konvoi ebenso geräuschlos davon, wie er gekommen war.

Eine Aufseherin ging stumm zählend durch die Reihen. Mit spitzem Bleistift strich sie einen Namen nach dem anderen aus. Sara, Rachel, Deborah, Lana, Bescha, Mindel, Mirjam, Bihri, Dorothea, Nacha, Chawa, Jezabel, Rebekka, Tikvah, Ursula, Ruth, Judith, Nachme, Hannah, Jedidja, Mimi, Baschewa, Daniela, Doris, Heinke, Margalit, Nurit, Schoschanah, Dina, Jyttel, Pesse, Inge, Telze, Simche, Tal, Maria, Milkele. Die verwaisten Strohsäcke wurden zum Eingang geschleift. In Salas Baracke saßen nur noch 23 Frauen.

Drei Tage und drei Nächte durchwachte Sala in Angst. Es gab noch Juden im Lager. Männer, Frauen, Kinder. Die Schwarzen würden so oft wiederkommen, bis der letzte Jude verschwunden war. Niemand wusste, was mit ihnen geschah. Es gab Gerüchte, dass sie zurückgeführt würden. Man flüsterte auch von polnischen Lagern, in denen es noch schlimmer zugehe als hier. Sala dachte an all die Menschen, die sie im Lager lieb gewonnen hatte. Sie schrieb mehrere Briefe. An ihren Vater, an Lola, an Hannes, den letzten an Otto. Sie vernichtete sie alle. Keiner würde seinen Adressaten erreichen. Die Zensur, das wusste Sala, war unbestechlich. Etwas war mit den Menschen geschehen. Es war ein unmerklicher Prozess, hier im Lager, wie damals in Deutschland. Ihre Gesichter waren zu einer seelenlosen Masse verschmolzen. Einheitlich ergoss sich das über Straßen und Plätze, über Berge und Täler. Das Gefühl schien nahezu aufgebraucht, gespalten in einen ängstlichen Rest und aufschäumende Sachlichkeit.

Am vierten Tag brach Sala zusammen. Sie wurde in die Krankenbaracke getragen. Dort überlebte sie, von Durchfall und Erbrechen geschwächt, den nächsten Transport. Sie hörte die Trillerpfeife von Madame Frévet, vernahm die Schreie, das Stöhnen, das Jammern. In dumpfe Angst gekleidet, roch sie den Gestank des Todes.

Sala stand vor ihrem Strohsack. Ihr Blick huschte über die wenigen Dinge, die sie an ihre Zeit im Lager erinnern würden. Sie wusste nicht, was sie mitnehmen sollte, ob sie überhaupt etwas mitnehmen wollte. Am Abend zuvor war die Nachricht wie ein Blitz eingeschlagen.

»Morgen kannst du gehen.«

Keine Erklärung. Nur dieser einfache Satz. Als würde man sie rauswerfen. Raus in die Freiheit? Mit den anderen Frauen kletterte Sala auf die Ladefläche.

»Vous prendrez le train pour Leipzig et Berlin.«

Zurück nach Deutschland? Warum? Und warum Leipzig und Berlin? Es blieb keine Zeit zu fragen, der Lastwagen rollte aus dem Lager hinaus.



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